In Deutschland sterben jährlich zwischen 75.000 und 95.000 Menschen an einer Sepsis. Damit liegt die Superinfektion des gesamten Organismus an dritter Stelle der häufigsten Todesursachen - nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs. Expert*innen gehen davon aus, dass bis zu ca. 20.000 Sepsis-Fälle durch frühzeitige Erkennung, Präventionsmaßnahmen (Impfungen und Prophylaxe von Krankenhausinfektionen) und bessere Behandlung vermeidbar wären.
Stand: September 2021
Wird die Krankheit, im Volksmund Blutvergiftung genannt, nicht binnen kürzester Zeit richtig diagnostiziert und intensivmedizinisch behandelt, endet sie tödlich. Und: Wer die schwer zu erkennende Infektion des ganzen Körpers überlebt, leidet häufig unter belastenden Spätfolgen.
Bei einer Sepsis gerät eine Entzündung außer Kontrolle: Sie ergreift den ganzen Körper, schädigt die Organe und führt unbehandelt in kürzester Zeit zum Tode. Problematisch: Die Anzeichen einer Sepsis ähneln häufig den Symptomen harmloser Infektionen. Gemeinsam mit Prof. Dr. med. Frank M. Brunkhorst, einem der führenden Sepsis-Forscher in Deutschland, informiert das IPF über die Krankheit.
Prof. Dr. med. Frank M. Brunkhorst leitet das Zentrum für Klinische Studien (ZKS) am Universitätsklinikum Jena sowie die Paul-Martini-Forschergruppe Clinical Septomics/Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie. Er ist zudem Vorstandsmitglied des Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrums (IFB) Sepsis und Sepsisfolgen (Center for Sepsis Control and Care, kurz: CSCC) des Universitätsklinikums Jena, Mitbegründer und stellvertretender Vorsitzender der Selbsthilfeorganisation Deutschen Sepsis-Hilfe e.V. und Vorstandsmitglied der Deutschen Sepsis-Gesellschaft e.V. Im Dezember 2005 erhielt er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz.
Experten registrieren eine bedenkliche Entwicklung: Die Zahl der Sepsis-Fälle nimmt in Industrienationen jährlich um etwa sieben bis acht Prozent zu. Jede zunächst lokal begrenzte Infektion kann sich zur lebensbedrohlichen Sepsis entwickeln. Das gilt vor allem dann, wenn das Immunsystem geschwächt ist, etwa in hohem Alter, nach schweren Operationen oder aufgrund von Chemotherapien bei Krebserkrankungen. Auch bestehende schwerere Infektionen erhöhen das Risiko einer Sepsis. So haben 44 Prozent der Betroffenen vorab eine Lungenentzündung. Auch aus Infektionen der Harnwege und der Geschlechtsorgane entstehen neun Prozent der Sepsis-Erkrankungen.
Im Anfangsstadium lässt sich eine Sepsis nur schwer erkennen. Zu den Symptomen gehören etwa Fieber, erhöhter Puls und niedriger Blutdruck – Beschwerden, die auch auf viele andere Krankheiten zutreffen. Dennoch gibt es Anzeichen, die in Kombination auf eine Sepsis hinweisen. Angehörige sollten nicht zögern, im Zweifelsfall den Notarzt zu alarmieren und Notfallmediziner immer auf bestehende Vorerkrankungen mit erhöhtem Infektionsrisiko hinweisen. Für Ersthelfer und Notfallmediziner gilt: Anzeichen gründlich abfragen und richtig interpretieren.
„Hat der Patient Fieber, Schüttelfrost, ist verwirrt und besteht der Verdacht auf irgendeine Infektion, sollten Notfallmediziner und Ärzte in der ambulanten Praxis hellhörig werden. Niedriger Blutdruck in Kombination mit erhöhter Herz- und Atemfrequenz spricht auch für den Beginn einer Sepsis. Wenn die Ärzte die Patienten mit der Verdachtsdiagnose Sepsis schnellstmöglich ins Krankenhaus einweisen, müssen sie dort gleich die in den Leitlinien vorgesehene Diagnostik durchführen.“
In der Regel gelingt es dem Immunsystem, Infektionsherde im Körper an Ort und Stelle zu bekämpfen. In manchen Fällen jedoch gelangen Bakterien in die Blutbahn und infizieren nach und nach die Organe. Dann schießt das Immunsystem in dem Bemühen, die Infektion einzudämmen, weit übers Ziel hinaus. Die weißen Blutkörperchen setzen Gifte frei, um die Bakterien zu vernichten. Die Mengen sind dabei so groß, dass sie die Wände der Blutgefäße schädigen. Die Flüssigkeit kann so ungehindert aus den Gefäßen ins Gewebe übertreten. Die Folgen: Der Blutdruck fällt rasant, der Sauerstoff wird knapp, das Herz pumpt vergeblich gegen die Unterversorgung an. Nach und nach versagen die Organe.
Lässt sich der Infektionsherd identifizieren, werden Mediziner ihn operativ entfernen (Fokussanierung). Das ist jedoch nicht immer möglich: Bei jedem zehnten Patienten finden die Ärzte den Ursprungsort der Infektion nicht – und in manchen Fällen geht die Erkrankung von einer Quelle aus, die sie schlicht nicht entfernen können (etwa Lunge, Bauchfell, Herzklappen).
Unabhängig davon müssen Patienten mit einer Sepsis so schnell wie möglich intensivmedizinisch behandelt werden. Sie erhalten über einen Venenkatheter Flüssigkeit, um den Blutdruck aufrecht zu erhalten (Volumentherapie) und Antibiotika, die die Infektionserreger bekämpfen. Gegen den extrem erhöhten Blutzuckerspiegel bei Sepsis gehen Ärzte mit intensiver Insulintherapie vor, Dialyse und künstliche Beatmung ersetzen die Funktion von geschädigten Organen wie Niere und
Vor allem für Menschen, die mit Vorerkrankungen im Krankenhaus liegen und über längere Zeit auf Katheter oder Beatmungsgeräte angewiesen sind, steigt das Sepsis-Risiko. Durch penible Hygiene sowohl beim Legen als auch Wechseln der Hilfsmittel könnte immerhin jede zehnte bis siebte Sepsis verhindert werden.
Eine besondere Risikogruppe stellen Menschen ohne Milz dar. Das Organ übernimmt zahlreiche Aufgaben für das Immunsystem. Fehlt es, sollten die Betroffenen ihre körpereigene Abwehr unbedingt durch Impfungen stärken. Mediziner der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin raten Betroffenen, sich gegen Pneumokokken, Meningokokken und Hib impfen zu lassen. Auch die jährliche Grippe-Impfung sollten sie nutzen, da eine Virusgrippe oft den Boden für eine bakterielle Lungenentzündung bereitet.
Mediziner unterscheiden drei Stadien der Sepsis, je nachdem, wie sehr die Infektion den Körper schon im Griff hat. Das wirkt sich auch auf die Chancen aus, die Krankheit zu überwinden.
Bei einer einfachen Sepsis verlassen die Krankheitserreger bzw. die von ihnen produzierten Gifte den Entzündungsherd und breiten sich im Körper aus (sogenannte Ganzkörperinfektion). Von dieser Form der Sepsis erholen sich 90 Prozent der Betroffenen.
Bei einer schweren Sepsis versagen zusätzlich einzelne Organe. 60 Prozent der Patienten überleben die Erkrankung.
Beim septischen Schock fällt der Blutdruck massiv ab, gleichzeitig versagen mehrere Organe (sogenanntes Multiorganversagen). Bei dieser Form der Sepsis kommen nur 40 Prozent der Erkrankten mit dem Leben davon.
Quellen: Deutsche Sepsis-Hilfe e.V., Zentrum für Sepsis und Sepsisfolgen (CSCC) am Universitätsklinikum Jena
Bei Sepsis zählt jede Minute. Werden Patienten bereits in der ersten Stunde der Erkrankung behandelt, überleben 90 Prozent. Nach fünf Stunden sind es nur noch um die 60 Prozent, nach 36 Stunden schafft es kaum jeder Fünfte.
Diese Statistik lässt sich verbessern: Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Sepsis-Todesopfer jährlich um etwa 15.000 bis 20.000 niedriger läge, wenn Mediziner die entsprechenden Behandlungsleitlinien konsequent einhalten könnten.
„Bei Patienten mit schwerer Sepsis oder einem septischen Schock müssen wir immer noch eine maximal hohe Sterblichkeit feststellen. Diese Tendenz hat sich trotz moderner Intensivtherapien wie Organersatzverfahren, Kreislauftherapie, Atmungstherapie und antiinfektiver Therapie wenig geändert.“
Vor allem die Menge und die Qualität der labormedizinischen Untersuchungen, insbesondere der Blutkulturen, spielt im Kampf um Früherkennung und höhere Überlebensraten eine Schlüsselrolle. Ebenfalls wichtig: bestimmte Symptome abzufragen und stimmig zu interpretieren.
Sepsis-Erkrankungen können aus Krankenhausinfektionen entstehen. Diese lassen sich durch Blutkulturen frühzeitig erkennen. Darum sehen aktuelle Richtlinien vor, dass in Krankenhäusern zwischen 100 und 200 Blutkultursets je 1.000 Patiententage angelegt werden. Statistiken des European Center for Disease Prevention and Control legen jedoch nahe, dass in deutschen Kliniken deutlich weniger intensiv nach Infektionen gesucht wird: Die Rate der Blutkultursets betrug nur rund 16 je 1.000 Patiententage. Ärzte können nur anhand einer Blutkultur erkennen, welche Erreger die Infektion verursacht haben und welche Antibiotika gegen ihn wirken.
Bestimmte Marker im Blut helfen dabei, Entzündungsprozesse frühzeitig zu erkennen. Der derzeit am besten untersuchte Sepsis-Marker ist das Procalcitonin (PCT). Erhöhte Werte fungieren als „rote Flagge“. Allerdings kann der Wert auch ohne Infektion erhöht sein. Auch wenn Mediziner weltweit an präziseren Markern forschen – selbst der beste könnte die eingehende mikrobiologische Diagnostik mittels Blutkultur nicht ersetzen. Denn nur mittels Blutkultur können behandelnde Ärzte feststellen, um welchen Erreger es sich handelt und wie stark er bereits ist.
Etwa 80 Prozent aller Sepsis-Fälle in Deutschland entwickeln sich außerhalb des Krankenhauses. Prof. Brunkhorst und andere Experten bemühen sich daher, Sepsis in die Liste der Diagnosen aufzunehmen, die Ersthelfer und Notfallmediziner routinemäßig bei Einsätzen abklären. Zu diesen sogenannten Tracer-Diagnosen gehören etwa Herzinfarkt und Schlaganfall. Vorteil: Alle Ersthelfer und Notfallmediziner würden nach einem festen Schema Verdachtsmomente erfragen und Patienten schon mit der Diagnose Sepsis ins Krankenhaus einweisen.
Sowohl die Erkrankung selbst als auch die intensivmedizinische Behandlung versetzen den Organismus in höchsten Stress. Der Überlebenskampf hinterlässt im Körper deutliche Spuren. 75 Prozent der Patient*innen, die eine Sepsis überlebt haben, leiden unter Spätfolgen. Diese Spätfolgen sind jedoch auch Ärzten noch viel zu wenig bekannt. Am häufigsten treten neurologische Syndrome auf. Beratungsangebote finden Patienten zum Beispiel bei der Deutschen Sepsis-Hilfe.
Überlebende leiden häufig an zurückgebildeten, geschwächten Muskeln und Nervenschäden (Polymyopathien und Polyneuropathie). Wichtig zu wissen: Die Muskeln und Nerven erholen sich wieder. Das dauert jedoch etwa ein Jahr. Diese Zeit erleben die meisten Patienten als sehr belastend – vor allem, wenn die behandelnden Ärzte sie nicht darauf vorbereiten.
Auch die Psyche leidet unter der Extremerfahrung Sepsis. Überlebende entwickeln besonders häufig eine posttraumatische Belastungsstörung. Noch Jahre später können bestimmte Töne, Situationen oder Anblicke immer wieder Angstzustände und Panikattacken auslösen. Andere Patienten werden depressiv. Eine psychologische Behandlung kann helfen, die belastenden Erfahrungen zu verarbeiten.
Sowohl die massive Entzündung als auch die Medikamente, die Sepsis-Patienten erhalten, stören die Arbeit der Nervenzellen im Gehirn. Gerade ältere Patienten leiden nach überstandener Sepsis häufig an Konzentrations- und Erinnerungsstörungen. Aber auch junge Patienten sind davon betroffen. Eine Demenz verschlechtert sich in der Regel nach überlebter Sepsis sehr.
„In der Reha muss ein Sepsis-Patient immer neurologisch mitbehandelt werden. Das ist elementar wichtig. Einen Patienten, der nach einer erfolgreichen Bypass-Operation wegen einer Sepsis wochenlang auf der Intensivstation gelegen hat, kann man nicht in eine kardiologische Reha schicken, wo kein Neurologe ist. Das ist unsinnig.“