„Gar nicht so selten wie man denkt und noch immer viel zu tun!" - Prof. Dr. Jürgen Schäfer vom Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZUSE) in Marburg erläutert für Diagnostik im Gespräch, warum es so wichtig ist, Patienten mit Seltenen Erkrankungen zu identifi zieren und schneller zu versorgen.
Seltene Erkrankungen (SE) nennt man solche Erkrankungen,die mit einer Prävalenz von weniger als einem Betroffenen oder einer Betroffenen pro 2.000 Einwohner auftritt. Im Vergleich zu den „häufigen Erkrankungen“ wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus oder Lipidstoffwechselstörungen, an denen fast jeder Zweite in unserem Land leidet, sind die „Seltenen“ somit tatsächlich selten. Was aber häufig vergessen wird, ist die Tatsache, dass es derzeit etwa 8.000 verschiedene SE gibt. Aufgrund dieser großen Zahl ist die Gesamtzahl der Betroffenen durchaus groß. So leiden derzeit alleine in der Bundesrepublik Deutschland mehr als vier Millionen Menschen an einer SE. Aufgrund der immer besser werdenden Diagnostik von bislang völlig unerkannten Krankheitsentitäten geht man davon aus, dass im Jahr 2020 etwa zehn Prozent unserer Bevölkerung mit einer mehr oder weniger schwerwiegenden Seltenen Erkrankung identifiziert sein wird. Die Zahl der Patienten wird also in den kommenden Jahren dramatisch zunehmen.
Entsprechend muss sich unser Gesundheitssystem auf diese Herausforderung einstellen und Maßnahmen ergreifen, um die Versorgungssituation der Betroffenen zu verbessern. Derzeit sehen wir häufig lange Verschleppungszeiten bis es zur endgültigen Diagnose bei „Seltenen“ kommt. So warten 30 Prozent der Patienten mit SE mehr als 5 Jahre auf eine konfirmatorische Diagnose. Etwa 40 Prozent dieser Patienten haben eine initiale Fehldiagnose erhalten – häufig aus dem psychiatrischen bzw. psychosomatischen Formenkreis. Und obgleich etwa 80 Prozent der SE genetisch determiniert sind und somit relativ einfach bereits im Kindesalter durch entsprechende Tests aufzuklären wären, werden mehr als 80Prozent der Betroffenen erst im Erwachsenenalter diagnostiziert. Dies weist auf Lücken bei unserem diagnostischen Vorgehen hin, die es zu schließen gilt.
Aber nicht nur die Diagnostik, auch die Versorgung von Menschen mit SE ist derzeit suboptimal. Es gibt 27 Zentren für Seltene Erkrankungen in Deutschland, die überwiegend an Universitätskliniken angesiedelt sind (siehe www.se-atlas.de). Fast allen diesen Zentren ist gemein, dass sie einen sehr starken Patientenzustrom zu schultern haben, was in der Regel zu sehr langen Wartezeiten führt. In unserem kleinen Zentrum in Marburg haben wir alleine mehr als 6.500 Anfragen von verzweifelten Patienten, die um einen Vorstellungstermin bzw. um Mitbeurteilung ihrer Krankengeschichte bitten. Diese große Anzahl von Patienten zeigt auf erdrückende Weise, dass hier ein Versorgungsproblem in unserem ansonsten gut funktionierenden Gesundheitssystem besteht. Um für diese Menschen Anlaufstellen anbieten zu können, brauchenwir heimatnahe „Kümmerer-Stationen“, die kostendeckend refinanziert werden müssten. Doch die Finanzierung der Zentren für Seltene Erkrankungen ist derzeit völlig unklar.
Weiteres Problem: Das Fallpauschalensystem in Deutschland sieht Seltene Erkrankungen nicht vor, so dass hier weder korrekt kodiert noch adäquat dem Aufwand entsprechend abgerechnet werden kann. Da das Fallpauschalensystem die Kodierung „unklar“ nicht vorsieht, führt das Abrechnungssystem zwangsweise zu fehlerhaften Kodierungen bei all den Patienten, die mit einer tatsächlich ungeklärten Fragestellung entlassen werden. So passiert es allzu oft, dass eine sogenannte „F-Diagnose“* aus dem psychosomatischen Formenkreis genutzt wird, um überhaupt eine belastbare Entlassdiagnose generieren zu können. Dies ist besonders dann fatal, wenn es sich um eine behandelbare SE handelt. Hier verfolgen wir in Marburg einen innovativen Ansatz, der zum Ziel hat, ein dynamisches Diagnostik-Panel für alle „behandelbaren Seltenen“ zu entwickeln. Es soll all die Erkrankungen erfassen, die zwar selten, aber gut behandelbar sind – und zwar unabhängig davon, ob der behandelnde Arzt die korrekte Diagnose überhaupt kennt oder jemals von ihr gehört hat. So wenig akademisch anspruchsvoll es auch sein mag, die einzige ärztliche Leistung sollte hier sein, den Verdacht auf etwas „Seltenes“ zu äußern – den Rest erledigt das Labor. Die enormen Fortschritte im Bereich der Diagnostik erlauben uns die Durchführung solcher Panel-Strategien, die – irgendwann hoffentlich – zu einer schnelleren Diagnose und früheren Therapie führen werden.
* Im aktuell gültigen internationalen Diagnoseschlüssel ICD 10 werden psychische Erkrankungen unter dem Buchstaben F zusammengefasst.
VDGH Diagnostik im Gespräch 1/2017