Zukunft der Medizin: Personalisierte Gesundheit ist möglich

Der Genomforscher und emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik, Prof. Dr. Hans Lehrach, erforscht mit dem Unternehmen Alacris Theranostics die individuelle Wirksamkeit von Medikamenten am virtuellen Patienten. Für DiG erläutert er das Projekt – Vorbild ist die Automobilbranche.

Menschen haben ein verschiedenes Genom, verschiedene epigenetische Veränderungen, verschiedene Zustände unseres Immunsystems, verschiedene Umwelt, verschiedene Vorerkrankungen und verschiedenes Verhalten. Diese Verschiedenheit ist besonders auch in der Onkologie wichtig. Zwei Menschen mit der gleichen Tumorart reagieren unterschiedlich auf dieselbe Therapie oder dasselbe Medikament. Um jeden Patienten individuell optimal behandeln zu können, brauchen wir einerseits detaillierte Daten über die vielen potenziell relevanten Unterschiede (bei Chirurgie z. B. MRI-Daten, bei medikamentösen Behandlungen bisher kaum verfügbare molekulare Daten), aber auch die Fähigkeit, aus diesen Daten die optimale Therapie abzuleiten (relativ einfach in der Chirurgie, extrem schwierig bei der Behandlung mit Medikamenten).

VDGH Diagnostik im Gespräch 1/2016

Erst auf Grund der enormen Fortschritte in diagnostischen Verfahren, besonders in Next Generation Sequencing (NGS), ist es möglich, viele dieser molekularen Prozesse im Körper des Patienten mit einer vor kurzem unvorstellbaren Genauigkeit durch verschiedene „-omics-Analyseverfahren“ zu charakterisieren. Die Sequenzierung des ersten menschlichen Genoms im Humangenomprojekt wurde durch ein internationales Konsortium aus mehr als 1000 Wissenschaftlern mit Kosten von über drei Milliarden Dollar über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren durchgeführt. Wir haben heute Sequenziermaschinen zur Verfügung, die pro Lauf 18 Genome zu je ungefähr 1000 Dollar sequenzieren können. So verwendet das Unternehmen Alacris Theranostics (www.alacris.de), eine Ausgründung aus dem Max-Planck-Institut für molekulare Genetik mit dem Ziel einer Personalisierung der medikamentösen Krebstherapie, eine detaillierte molekulare Analyse von Tumor (typisch: low-coverage-Genom, Exom,Transkriptom) und Patient (low-coverage-Genom, Exom), um über ‚actionable variants’ und Pathway-Aktivierungsmuster wichtige Erkenntnisse über mögliche Medikamentenreaktionen von Tumor und Patient zu gewinnen.

Den Menschen so gut behandeln wie ein neues Auto

Dazu nutzen wir einen Ansatz, den auch Automobilhersteller für ihre Entwicklungen verwenden: die genaue Nachbildung des Prozesses, über den wir Voraussagen machen wollen, in einem Computermodell. So werden Autos primär als Computermodelle entworfen, und in virtuellen Crashtests extensiv erprobt, um die bei komplexen Prozessen unvermeidlichen Fehler rasch, billig und ohne Risiko am Computermodell zu machen. In unserem Fall entsteht, mithilfe der aus den Sequenzierungen gewonnenen Daten, der Patient virtuell im Computermodell, an dem die Mechanismen eines Medikaments vorab getestet werden. Auch unsere Modelle sind selbstlernend, da die verwendeten Parameter, aber auch die Struktur des Modells, kontinuierlich angepasst werden können, um die Voraussagen kontinuierlich verbessern zu können. Dadurch können nicht nur mehr und mehr Patienten besser behandelt werden. Wir gewinnen potenziell auch völlig neue Erkenntnisse über biologische Prozesse, die auf Grund verschiedener Limitationen in der klassischen Grundlagenforschung nur nschlecht gewonnen werden können.

Mehr Gesundheit für alle

Die Kosten der notwendigen Untersuchungen liegen bereits jetzt in vielen Fällen unter den erwarteten Einsparungen (Kosten für unwirksame Medikamente, Behandlung von „adverse drug effects“, Verlust von Arbeits- und Lebenszeit), könnten aber durch Mechanismen analog denen, die bei anderen Technologieentwicklungsprojekten, wie z. B. Subventionen für Sonnenzellen oder Elektroautos, eingesetzt werden, rasch und deutlich weiter gesenkt werden. Eine Daten- und modellgetriebene Virtualisierung der Medikamentenentwicklung, zum Beispiel über „virtuelle klinische Versuche“ früh in der präklinischen Entwicklung eingesetzt, kann weit mehr Medikamente rascher und zu geringeren Kosten verfügbar machen und so ebenfalls zu einem verbesserten Gesundheitszustand sowie einer höheren Lebensqualität aller beitragen. Durch enorme Fortschritte bei Diagnostik und Rechnerleistung haben wir erstmals die Chance, zumindest in Teilbereichen der Medizin eine echte Personalisierung vieler medikamentöser Therapien zu erreichen und so Menschenleben zu retten, Menschen länger gesund zu halten und ein effektiveres Gesundheitssystem in Europa aufzubauen. Vorstellbar wäre dies z. B. im Rahmen eines neuen „Flagshipprojects“ (1 Milliarde Fördervolumen,10 Jahre Laufzeit) mit dem Zielder europaweiten Entwicklung einer personalisierten Medizin und Prävention (www.futurehealtheurope.eu) sowie zum „Health Care Compact for Europe“ (www.healthcarecompacteurope.eu).