Next Generation Sequencing: Schritt zur Personalisierten Medizin

Chancen der Gensequenzierung in der Labordiagnostik: Im Interview mit "Diagnostik im Gespräch" erläutert Dr. Lutz Garbes von der Abteilung Molekularbiologische Diagnostik am Institut für Humangenetik an der Uniklinik Köln die Möglichkeiten des Next Generation Sequencing (NGS) für die gesundheitliche Vorsorge und Früherkennung.

Was ist das Besondere an der Gensequenzierung?

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Für uns Menschen heißt dies, dass wir mehr sind als die Summe unserer 21.000 Gene. Trotzdem sind unsere Gene, deren Informationen in den Buchstaben A, T, C und G kodiert sind, von essentieller Bedeutung: Sie sind die „Konstruktionsskizzen“, die z. B. festlegen, welche Haar- und Augenfarbe wir haben. Zwar ist noch längst nicht die Funktion aller Gene verstanden, jedoch lässt sich schon heute teilweise anhand unserer Gene erklären, warum jemand erkrankt oder warum ein Medikament nur bei Person A wirkt.
 

Derzeit ist für ca. 3.800 erbliche Erkrankungen – von denen viele sehr selten sind – die genetische Ursache bekannt. Das heißt, dass man das Auftreten dieser Erkrankungen, zu denen u. a. der erbliche Brust-/Eierstockkrebs gehört, auf Veränderungen (Mutationen) der Buchstabenfolge in einem bestimmten Gen zurückführen kann. Die ursächliche Mutation in einem bestimmten Gen benennen zu können, ist (meistens) von entscheidendem Vorteil. Zum einen ermöglicht eine präzise molekulare Diagnose eine bessere medizinische Versorgung des Patienten. Zum anderen lässt sich durch die Kenntnis der Mutation bestimmen, welches Familienmitglied möglicherweise ebenfalls erkranken könnte, oder eben genau dies lässt sich ausschließen.

Wie wird diagnostiziert?

Für die Identifikation einer Mutation in der molekulargenetischen Diagnostik benötigt man die DNA eines Patienten, die üblicherweise aus einer kleinen Blutprobe gewonnen wird. Um nun die Buchstabenfolge eines Gens (Sequenz) bestimmen zu können, wird mit der DNA ein mehrstufiges Laborverfahren, eine sogenannte SANGER-Sequenzierung, durchgeführt. Jedoch sind die meisten Gene so groß, dass i. d. R. mehrere, teilweise mehr als 60 separate Sequenzierungen notwendig sind. Da mit der Größe des zu testenden Gens (oder der Anzahl der in Frage kommenden Gene) der Arbeitsaufwand und die Kosten enorm steigen, werden im Rahmen diagnostischer DNA-Sequenzierungen derzeit nur gezielt einzelne Gene analysiert. Allerdings gibt es Erkrankungen, bei denen nicht nur eine Handvoll Gene als potenziell krankheitsverursachend in Frage kämen. Ein Beispiel hierfür ist die angeborene Taubheit, für die mehr als 60 Gene beschrieben sind. In solchen Fällen konzentriert man sich derzeit auf die „Big Player“ und lässt die eher selten ursächlichen Gene außer Acht. Dies hat zur Folge, dass bei vielen Patienten die krankheitsverursachende Mutation nie gefunden wird.

Next Generation Sequencing – was ändert sich?

Vieles wird sich hoffentlich in Zukunft durch das sogenannte Next-Generation-Sequencing (NGS), eine Hochdurchsatzsequenziertechnik, grundlegend ändern. Im Gegensatz zur klassischen, vergleichsweise gemächlichen Sequenziermethodik werden bei NGS mehrere hundert Millionen Sequenzierungen gleichzeitig durchgeführt, weshalb man diese Technik auch „massive parallel sequencing“ nennt. Mit NGS können problemlos mehrere Dutzend Gene, sogar alle 21.000 Gene eines Patienten, auf einen Schlag sequenziert werden. Dadurch eröffnen sich vollkommen neue Perspektiven für die medizinische Diagnostik: Es können nicht nur ausgewählte, sondern alle in Frage kommenden Gene sequenziert werden – viel mehr Patienten als heute bekommen eine molekulargenetische Diagnose. Paare mit Kinderwunsch können testen, ob sie Anlageträger für genetische Erkrankungen sind. Und bei onkologischen Patienten kann Tumor-DNA komplett sequenziert werden und darauf aufbauend das effektivste Chemotherapeutikum gewählt werden. Die personalisierte Medizin wäre somit zum Greifen nahe.

Was kann NGS in der Prävention und Früherkennung leisten?

Ein Aspekt der medizinischen Versorgung, der enorm von den Möglichkeiten des NGS profitieren würde, wäre das Neugeborenen-Screening. Derzeit wird im Rahmen dieser Früherkennung ein Tropfen Blut des Kindes hinsichtlich des Vorliegens angeborener Stoffwechsel- und Hormonerkrankungen, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht durch Symptome äußern, analysiert. Wird ein auffälliger Blutwert gemessen, kann die Erkrankung diagnostiziert und frühzeitig eine entsprechende Therapie eingeleitet werden. Allerdings werden in diesem Screening derzeit nur ein Dutzend Krankheiten erfasst – u.a. auch weil sie sich als veränderte Blutwerte niederschlagen müssen. Im Rahmen eines Neugeborenen-Screenings mit NGS ließen sich mit der gleichen Probenmenge nicht nur ein Dutzend Erkrankungen, sondern mehrere Hundert Erkrankungen auf einen Schlag diagnostizieren. Auch wäre die Analyse nicht auf angeborene Stoffwechsel- und Hormonerkrankungen beschränkt, sondern könnte auch z.B. Herzerkrankungen oder angeborene Hörstörungen umfassen.

Wie stehen die Chancen, dass NGS flächendeckend zum Einsatz kommt?

Bis dahin ist es jedoch noch ein Stück des Weges. Zum einen sind die Datenanalyse und die Interpretation der Befunde extrem anspruchsvoll und erfordern entsprechend ausgebildetes Fachpersonal. Qualitätsstandards sowie ethische und rechtliche Richtlinien – z. B. wie bei umfassenden Genomanalysen mit den zu erwartenden Nebenbefunden umzugehen ist – werden gerade erst entwickelt. Auch ist die Frage der Kostenübernahme durch die Krankenversicherungen noch nicht geklärt. Daher wird NGS in Deutschland derzeit meist nur im Forschungssektor durchgeführt. Die ersten Schritte zur breiten Anwendung sind jedoch getan, und man kann hoffen, dass NGS – eher kurz- als langfristig – seinen Weg in die medizinische Routinediagnostik finden wird.
 

VDGH: Diagnostik im Gespräch 2/2013